Psychologische Sicherheit - Trend um ein Buzzword?
Ein Blick in Google Trends zeigt, dass Psychologische Sicherheit aktuell ein historisches Hoch erlebt. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sich die Arbeitswelt wandelt und die psychologische Sicherheit immer mehr entscheidet, welche Organisationen erfolgreich sein werden und welche weniger. Agile Coaches und Scrum Master sind daher bemüht, sich um die Psychologische Sicherheit ihrer Teams zu kümmern.
Schauen wir, ob der Hype um Psychologische Sicherheit in agilen Teams gerechtfertigt ist und was man konkret tun kann!
Psychologische Sicherheit: Definition & die Forschung dahinter
Bevor wir darüber sprechen, warum Psychologische Sicherheit aktuell so im Fokus steht, sollten wir eine Grundlage schaffen und beantworten: Was ist psychologische Sicherheit?
Eines noch vorweg, für die Ungeduldigen unter euch. In unserem Retro Tool Echometer haben wir eine Retro entwickelt, die spezifisch für das Training von psychologischer Sicherheit gedacht ist. Schaut gerne mal rein:
Hinweis: Bei diesem Format wird die Zustimmung zu den Health Check-Items auf einer Skala abgefragt.
- Wertschätzung: Wir wertschätzen die Leistungen und Beiträge unserer Kolleg*innen.
- Teamgeist: In unserem Team herrscht ein vertrauensvolles Arbeitsklima.
- Transparenz: In meinem Team weiß jede*r, wer gerade an was arbeitet.
- Erholung & Pausen: Ich habe genug Raum für Pausen, in denen ich neue Energie schöpfen kann.
- Meeting-Kultur: Unsere Meetings sind gut strukturiert und lassen trotzdem Raum für Kreativität und Neues.
- Unterstützung: In meinem Team gibt jedes Teammitglied sein individuelles Wissen und seine Erfahrungen weiter.
Die Psychologin Dr. Amy Edmondson hat als erste im Jahr 1999 das Konstrukt “Team Psychological Safety” geschaffen, als sie in einem Krankenhaus in einer Studie den Zusammenhang zwischen Höchstleistungsteams und Fehlerquoten untersuchte. Sie erwartete, dass die besten Teams weniger Fehler machen. Sie wurde überrascht: Die besten Teams meldeten mehr Fehler. Da kam ihr die Erkenntnis: Höchstleistungsteams sind eher bereit und in der Lage, über Fehler zu sprechen. Durchschnittliche Teams wiederum verstecken ihre Fehler (sie machten also in der Studie mehr Fehler, was sich aber nicht zeigte, weil sie die Fehler gar nicht erst meldeten).
Das Muster bestätigte sich mehrfach auch in anderen Studien. Und mit dieser Erkenntnis war Psychologische Sicherheit als psychologisches Konstrukt etabliert. Ihrer Definition nach ist Psychologische Sicherheit eine von den Mitgliedern eines Teams geteilte Überzeugung, dass es im Team sicher ist, zwischenmenschliche Risiken einzugehen.
Psychologische Sicherheit ist die Überzeugung, dass man nicht bestraft oder gedemütigt wird, wenn man seine Ideen, Fragen, Bedenken oder Fehler anspricht, und dass das Team ein sicherer Ort ist, zwischenmenschliche Risiken einzugehen.
Definition Psychologischer Sicherheit nach Dr. Amy Edmondson
Diese noch relativ abstrakten Konstrukte lassen sich in der Psychologie in konkrete Items herunterbrechen, wie sie auch in Umfragen verwendet werden. Diese Items ermöglichen eine praktische Perspektive auf Psychologische Sicherheit. Zu den Items zählten zum Beispiel:
- Alle Mitglieder dieses Teams fühlen sich in der Lage, Probleme und schwierige Fragen anzusprechen.
- Wir legen mehr Wert auf Ergebnisse als auf Output oder Input, und niemand muss „beschäftigt aussehen“.
Bereits damals war Amy Edmondson’s Schlussfolgerung, dass Psychologische Sicherheit eine Grundlage für Höchstleistungsteams sowie eine fundamentale Voraussetzung für organisationales Lernen und Innovation ist.
Die Fakten: Vorteile Psychologischer Sicherheit
Das Beratungsunternehmen Accenture hat die Vorteile hoher Psychologischer Sicherheit in Zahlen zusammengefasst:
- 27% weniger Fluktuation
- 76% mehr Engagement
- 50% mehr Produktivität
- 74% weniger Stress
- 29% mehr Lebenszufriedenheit
- 57% mehr Kollaboration
- 26% bessere Kompetenzentwicklung/ Lernrate
- 67% höhere Wahrscheinlichkeit, dass neues Wissen angewendet wird
Seit Anfang der Forschung zu Psychologischer Sicherheit bestätigen Studien ähnliche Effekte.
Während viele konkrete Wirkungsweisen noch zu untersuchen sind, können wir eines mit hoher Sicherheit sagen: Psychologische Sicherheit ist ein grundlegender Wegbereiter.
Warum Psychologische Sicherheit eine Voraussetzung für agile Teams & Scrum ist
Das Scrum-Framework setzt genau wie alle agile Arbeitsweisen darauf, einen Rahmen zu schaffen, in dem Teams sich entfalten können. Was ist aber nun, wenn die Teams diese Freiräume gar nicht nutzen? Dieses Phänomen ist so verbreitet, dass es einen eigenen Namen erhalten hat: Zombie-Scrum. Bei Zombie-Scrum fehlt es unter anderem an Engagement, Ideen und Diskussionen im Team. Eine Kernursache für diese Dysfunktionen in agilen Teams ist fehlende Psychologische Sicherheit.
In agilen Teams bleibt die Psychologische Sicherheit neben den agilen Routinen, Meeting-Formaten & Co eine Zutat, die nicht fehlen darf. Und das gleiche Fazit trifft auch das Harvard Business Review: Ohne Psychologische Sicherheit funktioniert Agilität nicht.
Die meisten Agile Coaches drehen sich im Kreis…
…und behandeln oberflächliche Symptome. Es wird Zeit, die Psychologie zu nutzen – für einen nachhaltigen Mindset Change.
„Wir entdecken zu viele unerwartete Probleme und Bugs zu einem späten Zeitpunkt!“
„Warum brauche ich manchmal Stunden, um eine einfache Retrospektive vorzubereiten?“
Höchstleistung und psychologische Sicherheit: Projekt Aristoteles
Google ist bekannt dafür, intern aufwändige Untersuchungen vorzunehmen und glücklicherweise auch regelmäßig Ergebnisse auf Re:Work zu veröffentlichen, um die Welt daran teilhaben zu lassen.
So hat Google mit seinem Projekt Aristoteles untersucht, was effektive Teams bei Google ausmacht.
Die Effektivität der Teams wurde dabei umfassend über die Bewertung durch das Management, die Führungskräfte, das Team selber, als auch die Erreichung von Quartalsziele gemessen.
In dieser Untersuchung hat sich Google über 250 Variablen angeschaut und haben festgestellt: Es kommt weniger darauf an, wer im Team ist, sondern vielmehr darauf, wie das Team zusammenarbeitet.
Und welcher Faktor stand dabei an erster Stelle als Prädiktor für Höchstleistung? Natürlich: Psychologische Sicherheit.
Dabei wollen wir natürlich nicht verschweigen, dass sich auch weitere Faktoren in der Untersuchung als essentiell herausgestellt haben:
- Psychologische Sicherheit – Die Teammitglieder fühlen sich sicher, Risiken einzugehen und vor den anderen verletzlich zu sein. Beispiel: „Wenn ich in unserem Team einen Fehler mache, wird das nicht gegen mich verwendet.“
- Verlässlichkeit – Die Teammitglieder erledigen ihre Aufgaben pünktlich und erfüllen die hohen Anforderungen von Google an hervorragende Leistungen. Beispiel: “Wenn meine Teamkollegen sagen, dass sie etwas tun werden, ziehen sie es auch durch.”
- Struktur und Klarheit – Die Teammitglieder haben klare Rollen, Pläne und Ziele. Beispiel: „Unser Team hat einen effektiven Entscheidungsfindungsprozess.“
- Bedeutung – Die Arbeit ist persönlich wichtig für Teammitglieder persönlich wichtig. Beispiel: „Die Arbeit, die ich für unser Team leiste, ist für mich von Bedeutung.“
- Wirkung – Die Teammitglieder glauben, dass ihre Arbeit wichtig ist und bewirkt Veränderungen. Beispiel: „Ich verstehe, wie die Arbeit unseres Teams zu den Zielen der Organisation beiträgt.“
Man darf also nicht denken, dass Psychologische Sicherheit der einzige zentrale Faktor für erfolgreiche Teams ist. Ausführliche Hintergrundinfos und Übungen zu den psychologischen Erfolgsfaktoren für Teams findet ihr auch in dem eBook von Christian: 12 Workshops on Team Flow & Mindset Change
Psychologische Sicherheit messen
Kann man Psychologische Sicherheit überhaupt messen? Ja, selbst die Schöpferin Amy Edmondson hat Psychologische Sicherheit schließlich bereits gemessen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten Psychologische Sicherheit zu messen.
Amy Edmondson nutzt für die Messung in ihrer Studie Psychological Safety and Learning Behavior in Work Teams zum Beispiel die folgenden Items:
- Wenn man in diesem Team einen Fehler macht, wird einem das oft vorgeworfen. (invertiert)
- Die Mitglieder dieses Teams sind in der Lage, Probleme und schwierige Themen anzusprechen.
- Menschen in diesem Team lehnen andere manchmal ab, weil sie anders sind. (invertiert)
- In diesem Team ist es sicher, ein Risiko einzugehen.
- Es ist schwierig, andere Mitglieder dieses Teams um Hilfe zu bitten. (invertiert)
- Niemand in diesem Team würde absichtlich in einer Weise handeln, die meine Bemühungen untergräbt.
- Bei der Arbeit mit Mitgliedern dieses Teams werden meine einzigartigen Fähigkeiten und Talente geschätzt und genutzt.
Es bleibt natürlich die Frage: Sollte man Psychologische Sicherheit messen? Die Antwort ist wahrscheinlich: Ja, aber vorsichtig. Wenn man mit den Ergebnissen der Messung unvernünftig umgeht, kann das schnell dazu führen, dass man der psychologischen Sicherheit schadet.
Gerade in Top-Down-Kulturen können Ergebnisse schnell als Druckmittel vom Management genutzt werden und damit die Psychologische Sicherheit beschädigen. Die nächste Erhebung fällt dann gegebenenfalls positiver aus, wobei das nur daran liegt, dass bei einem schädlichen Umgang mit den Daten die Rahmenbedingungen für eine neutrale Erhebung negativ beeinflusst wurden.
Wie man eine Verschlechterung durch die Messung Psychologischer Sicherheit verhindern kann, schauen wir uns im nächsten Abschnitt an.
Psychologische Sicherheit in agilen Teams schaffen und verbessern
In ihrem Millionfach geklickten TEDx Talk gibt Amy Edmondson drei einfache Tipps wie jeder Einzelne zu mehr Psychologischer Sicherheit beitragen kann:
- Betrachte die Arbeit als ein Lernproblem, nicht als ein Ausführungsproblem.
- Erkennen deine eigene Fehlbarkeit an.
- Sei neugierig und stelle viele Fragen.
Gerade auf Teamebene gibt es darüber hinaus einige Grundvoraussetzungen und Routinen, die du unbedingt schaffen solltest:
- Klarheit über Werte schaffen
Werte dienen als Kompass für Entscheidungen. Funktioniert der Kompass gut, fühlen sich Teammitgliedern sicher, selbstständig Entscheidungen zu treffen. Das führt zu weniger Abstimmungsaufwand und mehr Eigenverantwortung. Ist der Kompass hingegen kaputt, entsteht Unsicherheit, mehr Diskussionen und möglicherweise sich entgegenwirkende Entscheidungen. Es ergibt also Sinn, Werte zum Beispiel sogar in einem eigenen “Kulturbuch” explizit aufzuschreiben und mit konkreten Verhaltensankern oder Beispielen aus dem eigenen Unternehmen anzureichern. - Retrospektiven nutzen für Feedback und Reflexion
Selbst wenn die Klarheit über die Werte einmal da ist, bleibt es eine kontinuierliche Herausforderung, diese auch zu reflektieren und im Alltag zu etablieren. Tut man dies nicht, wandern die Wahrnehmungen der Teammitglieder schnell wieder auseinander und der Kompass wird unbrauchbar. Retrospektiven sind der optimale Rahmen für die Kalibrierung des Werte-Kompass und schaffen gleichzeitig einen Rahmen für offenes Feedback, was die Psychologische Sicherheit weiter stärkt.
Um den Einstieg hier einfach zu gestalten, haben wir eine Retrospektive zur Psychologische Sicherheit für euch vorbereitet. Mit dieser Retrospektive könnt ihr Psychologische Sicherheit sowohl messen als auch daran arbeiten und erste Erfahrungen mit Retrospektiven sammeln. Den Einstieg findet ihr oben in diesem Post (wahrscheinlich habt ihr es schon gesehen.
Fazit: Psychologische Sicherheit spielt eine zentrale Rolle in agilen Teams
Ja, Psychologische Sicherheit mag aktuell in agilen Teams ein Buzzword sein. Aber dieser Hype ist größtenteils zurecht, denn der Einfluss von Psychologischer Sicherheit ist sehr groß. Natürlich gibt es neben der Psychologischen Sicherheit aber auch weitere psychologische Faktoren für die Zusammenarbeit, die man als Scrum Master und Agile Coach im Blick haben sollte.
Die psychologischen Aspekte der Zusammenarbeit und die Organisationskultur sind definitiv Themen, mit denen sich darüber hinaus auch jede Führungskraft auseinandersetzen sollte. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint: Wahrscheinlich gibt es wenige Themen auf der Management-Agenda, die einen größeren Impact auf den langfristigen Unternehmenserfolg haben.